Das Mittagessen in der City war hervorragend. Zufrieden setze ich mir die Cyber-Brille auf und gehe kurz die nächsten Termine durch. Ich spreche mit meiner Apple-Watch und bestelle den nächstgelegenen Fahrzeugautomaten meiner Wahl: geräumig, Fenster abgedunkelt, voll „connected“. Er meldet Minuten später seine Verfügbarkeit vor Ort. Einsteigen, ein kurzer Power-Nap, Aktenstudium. Die Flatrate für den Fahrzeugautomaten wird dem Firmenkonto belastet. Ich bin fit für die nächste Besprechung.
Willkommen bei Industrie 4.0, dem vierten Quantensprung in der Technologie. Drei liegen hinter uns:
1. die Mechanisierung mit Wasserkraft und Dampfmaschinen
2. die arbeitsteilige Massenproduktion auf Fliessband
3. die Einführung von Elektronik und Informationstechnologie
Geschichten sind einfacher zu verstehen als abstrakte Trendextrapolationen in die unmittelbare Zukunft: wie die Geschichte von der Zukunft der Autoindustrie.
In wenigen Jahren haben fette Luxuskarossen als Statussymbole ausgedient, sie verbringen ihren Lebensabend in Schwellenländern als Taxifahrzeuge. Die Fahrzeugautomaten von morgen – auf dem Reissbrett der Entwicklungsabteilungen von heute – repräsentieren nicht mehr, ihre äussere Erscheinung ist sekundär, wie auch ihre Motorisierung.
Wer sitzt in einem Fahrzeugautomaten und wünscht sich hohe Beschleunigungswerte beim Kaffeetrinken oder einen sportlichen Sound beim Kommunizieren.
Fahrzeugautomaten fährt man nicht, besitzt man nicht, man nutzt sie. Sie sind, um es einfach auszudrücken, Transportmittel von A nach B, unfallfrei, leichter, hochkomfortabel und voll „connected“, wie das einleitende Beispiel zeigen soll. Zur Disposition steht die langfristig aufgebaute und mit hohen Investitionen verbundene Markenprofilierung (die Marke) bzw. die ästhetische und technologische Profilierung zum Erhalt der USP (Unique Selling Proposition). Hinzu kommt, dass die dauernde Nutzung der Fahrzeuge zur Folge hat (heute sind es überwiegend Stehzeuge und nicht Fahrzeuge), dass die Nachfrage nach Neufahrzeugen markant sinken wird – die Privatgaragen stehen leer bzw. werden als Fitness- und Saunaräume einer neuen Nutzung zugewiesen. Um die verbleibende Restnachfrage ringen branchenfremde Konkurrenten aus der IT-Branche, viele davon aus dem Silicon Valley. Start-ups und globale Technologieunternehmen mit prall gefüllten Geldsäcken wie Apple und Google sehen in der Autoindustrie neue lukrative Geschäftsfelder. Sogar Facebook investiert in die Entwicklung von Maschinenintelligenz und Amazon ist mit der Tochter Kiva mit von der Partie.
Die Frage muss man stellen: wo finden hochpreisige Volumenfahrzeuge von Audi, BMW, Mercedes u.a. zukünftig ihre Käufer?
Horrorszenarien für die deutsche Autoindustrie mit grossen Auswirkungen auf die Schweizer Komponenten- und Teilefertiger (und den Arbeitsmarkt) wie beispielsweise für die börsenkotierten Gesellschaften Autoneum, Feintool, Ems-Chemie und Georg Fischer (GF Automotive). Andererseits: Keine Geschwindigkeits-, Führerausweis- und Alkoholkontrollen, keine Staumeldungen, es hat wieder Platz in den Städten. Die Verbrennungsmotoren sind im Verkehrshaus und in Oldtimer-Vereinen. Sicher gibt es eine Übergangsphase, bevor der Fahrer „sein“ Lenkrad definitiv abgibt. In dieser Übergangsphase ist er noch im „driver seat“ und lässt sich assistieren, auf langen Fahrten, in schwierigen Verkehrssituationen, bei Stau, einfach überall dort, wo ihm das Fahren keine Freude mehr macht. Doch wir stehen vor einem Megatrend(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Es ist müssig darüber zu streiten, wann es soweit sein wird. Die Mobilitätsangebote verändern sich stetig. Der Trend zur geteilten Nutzung (car sharing) und zur Nutzung auf Abruf (on demand) ist ungebrochen. Mobility erzielt 2013 mit 2650 Fahrzeugen und 112’000 Kunden einen Umsatz von CHF 70,3 Mio. Mit dem Erwerb einer 11% Beteiligung am Jungunternehmen Sharoo – mein Auto ist dein Auto – erweitert sie ihr Angebot in Richtung Teilen von Privatfahrzeugen. Die Mehrheit von Sharoo hält M-Way, eine Tochtergesellschaft der Migros.
Daimler und Europcar sind mit dem Sharing-Angebot Car2go auf dem Markt, BMW mit „Tausende Autos. Eine APP“. Alternative Angebote wie der Taxidienst Uber oder die neuen Fernbusse kommen dazu. Auch von der technischen Seite ist der Wandel voll im Gang. Schon heute verfügen die Fahrzeuge der gehobenen Klasse über eine Vielzahl von Assistenzsystemen die mithelfen, die Spur zu halten, den toten Winkel zu überwachen, im Notfall zu bremsen, einzuparken, Verkehrszeichen zu lesen, Parkplätze zu suchen. Dazu kommen Navi (mit hinterlegten Verkehrszeichen, Höchstgeschwindigkeiten, Fussgängerstreifen u.a.), Fern- und Nahbereichsradar, Kameras, aber auch optische Sensoren wie Distanz-, Rad- und Parksensoren, alle Systeme und Sensoren mit Redundanz. Es fehlt nur noch die Vernetzung aller Systeme und Sensoren zu einem Gesamtsystem, das die Daten liefert, um gestützt auf Algorithmen Entscheide zu treffen und das Fahrzeug autonom zu fahren. Denn das Fahrzeug muss in der Lage sein, die aktuelle Verkehrssituation zu erkennen, wie Umleitungen, neue Tempolimiten und die Nachbarverkehrsteilnehmer.
Die Überwachungspflicht der Fahrzeughalter und -mieter führt zu rechtlichen Fragen (die Versicherungsbranche wird nicht untätig bleiben), wie auch die Produkthaftung der Fahrzeughersteller und der Datenschutz. Es entstehen neue Stellen für Absolventen der Jurisprudenz! Die Finanzierung und der Unterhalt der mit Verkehrssensoren umgebenden Infrastruktur wird die Politiker beschäftigen.
Das Beispiel der Autoindustrie soll zeigen, wie radikal Änderungen sein können und werden.
Auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern wurde in den letzten Jahren Branche um Branche zerlegt: der Handel (E-Commerce), die Medien (Abkehr von den Print-Medien), Entertainment (neue Vertriebswege für Film und Musik) – und jetzt die Industrie.
Der technologische Quantensprung in der Fertigung
Es war und wird immer eine strategische Kernfähigkeit der Schweizer Exportindustrie sein, den Fertigungsprozess zu optimieren und die Produktentwicklung und -gestaltung den wechselnden und steigenden Kundenbedürfnissen laufend anzupassen. Zukünftig erlauben cyberphysische Systeme, die Produktentwicklung und den Produktionsprozess derart miteinander zu vernetzten, dass Kundenbedürfnisse (kleine und variierende Losgrössen bis hinunter zu einem individuell gefertigten Produkt für einen einzigen Kunden) und Lieferzeiten unmittelbar in den Produktionsprozess eingehen.(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Schon heute kennt die Autoindustrie „kleine“ Losgrössen: Der Kunde bestellt sein Fahrzeug über Internet, nachdem er seine individuellen Bedürfnisse bezüglich Motorisierung (Hubraum), Aussengestaltung (Lackierung, Glas- und Schiebedach, Felgen) und Innengestaltung (Navi, Sound, Sitze, Zierelemente) selbst gewählt hat, wobei er seine Wahl optisch auf dem Bildschirm präsentiert bekommt wie auch die Auswirkungen auf den Gesamtpreis.
Möglich wird diese Vitalisierung und Beschleunigung der Produktionsprozesse durch Milliarden von Sensoren, die allgegenwärtig gigantische Datenmengen erfassen, in IT-Wolken bündeln, analysieren („intelligence on demand“) und im Ergebnis den Produktionsprozess steuern.
Morgen sind die Werkshallen menschenleer, der Produktionsprozess ist voll digitalisiert und vernetzt.
Die voll digitalisierten Antriebs- und Steuerungstechnologien werden unterstützt durch Industrieroboter der letzten Generation: kleiner, schneller, intelligenter („Smart Factory“). Computerbrillen (Cyberbrillen) in den Werkshallen (wie Google Glass, Hololens von Microsoft oder Oculus Rift von Facebook) mögen wohl noch lange Zukunft bleiben und sich vorerst in der Unterhaltungsbranche Achtung verschaffen müssen (für den Mix aus realer und virtueller Realität auf der Basis von Windows Holographic Cumputing), gefolgt von professionellen Anwendungen in Medizin und Architektur. Ein Hack nach vorne könnte die Lancierung der Apple Watch bedeuten.(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Die digitale Assistentin Siri bildet den Kern der Apple-Watch-Benutzeroberfläche. Von gestern ist die mühsame kleinformatige und berührungsgesteuerte Kommunikation. Siri kann Ihre Stimme erkennen, Applikationen öffnen, Nachrichten versenden, Fragen beantwortet. Ihr Internet am Handgelenk, sprachgesteuert:
„Siri, ich habe Probleme …“ Nicht Ihre Finger als Benutzerschnittstelle, Ihre Stimme. Sie sprechen mit Ihrem Computer, trotz starken Hintergrundgeräuschen! Kann sein, dass Sie vorerst ein kleines Spracherkennungsprogramm über sich ergehen lassen müssen, so wie beispielsweise bei den Navi-Geräten von Mercedes von heute. Kann sein, dass erst fortgeschrittene Versionen diese Möglichkeit eröffnen, doch die allgemeine Richtung ist verblüffend.
Kompliziert? Ihre Interaktion mit der digitalen Realität und der künstlichen Intelligenz wird vielleicht noch einfacher als die gegenwärtige fingergesteuerte Applikation. Man muss sich das einmal vorstellen!
Ist unsere Wirtschaft, sind wir als Gesellschaft oder Einzelperson vorbereitet auf diese Veränderungen? Wo laufen wir mit, an der Spitze, im Mittelfeld oder am Schluss als Getriebene, vor oder hinter dem Besenwagen?
Die Richtung ist das Ziel
Vor allem KMU scheinen mit Industrie 4.0 überfordert. Sie sind noch mitten im dritten technologischen Quantensprung – der Digitalisierung mit ihren Folgen. Auch ist das Ziel am Horizont für viele nicht klar genug. Experimente erhöhen das Risk-Exposure. Die Themenführerschaft übernehmen ohnehin globale Gesellschaften oder Start-ups. Auf der anderen Seite wird das „Entry Ticket“ für Industrie 4.0 immer teurer und ultimativer, die „Claims“ für Hochtechnologie laufend von Konkurrenten besetzt und heftig verteidigt. Man riskiert, völlig abgehängt zu werden. „Wer zu spät kommt, bestraft das Leben“ trifft hier voll zu. Und die Entwicklung verläuft disruptiv!
Erfolgreiche Unternehmer müssen das Ziel Industrie 4.0 haben und sich laufend nach diesem Ziel ausrichten, zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten, aber mit Leib und Seele.
Dazu ein mögliches Vorgehen in Schritten:
Schritt 1: Erkennen, Antizipieren, Ziele setzen. Unternehmer/ Verwaltungsrat (VR) und Geschäftsleitung (GL) erkennen die Veränderungen im branchenspezifischen Markt: Produkte, Verfahren, Kundenbedürfnisse, Kunden.
Sie setzen Industrie 4.0 Ziele und bestimmen die Zuständigkeiten. Industrie 4.0 ist zukünftig Bestandteil der Standard-Traktandenliste.
Schritt 2: Fach-Support, Teaming. Den Zuständigen zur Seite stehen Industrie 4.0 „Experten“: Kader aus Fabrikation, Produktgestaltung und -entwicklung (Forschungsressort), Verkäufer mit Fronterfahrung (Client Service Executives), diese ergänzt durch Kunden (wie „Key Account Clients“ und „Early Adopters“). Sie sind zu vernetzen in einem Competence-Center 4 G oder einem Office 4.0.
Schritt 3: Lösungen suchen. Sofortmassnahmen (SOMA) einleiten und mittelfristige Massnahmen auf vorbehaltene Entscheide formulieren und quantifizieren. Als Diskussionsgrundlage für die Fertigung in den Werkshallen dienen die Fertigungs-Kernprozesse, in einer ersten Stufe vorteilhafterweise in einer vereinfachten bzw. verdichteten Prozessdarstellung. In der Folge sind diese „High Level Flowcharts“ herunterzubrechen auf konkrete Fertigungsprozesse, was zeitaufwändig und anspruchsvoll sein kann (grundsätzlich stehen dafür Softwareprogramme zur Verfügung).
Schritt 4: Improvement. Die diskutierte und beschlossene weitergehende Digitalisierung/intelligente Automatisierung führt zu einem Teil-Reengineering bzw. zu einem „Process-Improvement“. Davon betroffen sind auch die Unterstützungs- bzw. Supportprozesse, wie die IT-Prozesse und das Rechnungswesen (Controlling und Kostenrechnung).
Schritt 5: Controlling. VR/GL bestimmen für das Controlling einen CTO Industrie 4.0 ( Chief Technology Officer). Er kennt die Entwicklung an der Front, die Umsetzung bei Konkurrenten und bei potentiellen Kunden und pflegt ein Beziehungsnetz zu Beratungsunternehmen (für Process-Reengineering, Softwareentwicklung u.a.) bzw. zur digitalen Avantgarde.
15.05.2015/Renzo Zbinden