Russland – Handelspartner und Aggressor

Russische Soldaten marschieren in die Ostukraine, besetzen Gebiete und annektieren die Krim. Europa ist entsetzt. Mit sowas hat niemand gerechnet. Die EU beschliesst Sanktionen gegen Russland. Die Schweiz will nicht mitmachen. Unser Wirtschaftsminister Johann Schneider-Amman bietet als Ersatz für Sanktionen seine Vermittlerdienste an. Das könne er, da die Schweiz keine Partei ergreife.

So sehen nicht wenige ihre Chance gekommen zu liefern, was andere nicht mehr dürfen. An der Spitze: die Agrarlobby. Doch soweit sollte es nicht kommen. Das konnte sich auch die Schweiz nicht leisten. Sie erliess die Verordnung „Massnahmen zur Vermeidung der Umgehung internationaler Sanktionen“, in Ergänzung zu den Vorkehrungen, die sie bisher getroffen hat.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Zu den damals beschlossenen Massnahmen gehören ein Bewilligungsstopp für Ausfuhren von Kriegsmaterial sowie von gewissen zivil oder militärisch verwendbaren Gütern (nach Russland und in die Ukraine), eine Meldepflicht für Güter und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdölförderung und eine Meldepflicht für Finanzdienstleister. Ergänzend hinzu kommt ein Verbot neuer Geschäftsbeziehungen für den Finanzsektor.

Ein Bewilligungsstopp für Kriegsmaterial hätte vermutlich schon über das Kriegsmaterialgesetz erfolgen müssen (Bundesgesetz über das Kriegsmaterial, Art. 22 KMG) bzw. über die Kriegsmaterialverordnung (Verordnung über das Kriegsmaterial, Art. 5 KMV).

Ohne es weiter vertiefen zu wollen erscheint eine Meldepflicht für irgendetwas als wenig folgenschwer. Und überhaupt: Wie furchterregend war die Schweizer Drohkulisse gegen russische Interessen? Und wer hat ohne öffentliches Wehklagen die grossen Opfer getragen? Die Wirtschaft blieb merkwürdig stumm, auch der Finanzsektor.

Tauwetter

Die Invasion an der Ostflanke der Nato ist schon wieder Geschichte. Das Gedächtnis ist kurz. Die Anstandsfrist vorbei. Bereits Mitte Mai reiste der Nationalratspräsident Jürg Stahl mit einer grossen Bundeshausdelegation nach Moskau. Im Juli folgte Schneider-Ammann mit einer Wirtschaftsdelegation als Türöffner für kleine und mittlere Unternehmen. Teil der Wirtschaftsdelegation war auch der CEO der russischen Tochtergesellschaft der Ammann Group, die von seinem Sohn geführt wird.

Auch die parlamentarischen Lobbyisten wollen keine Zeit verlieren. Sie sehen ihre Möglichkeit, vor dem Tross der grossen Nationen ihre Pflöcke zu stecken. Sie fordern eine Wiederaufnahme von Verhandlungen (nach der Handelszeitung vom 22.06.2017). Natürlich wollen sie das.

Das verstehen doch alle, die Schweizer Bevölkerung wie auch jene Staaten, die sich solidarisch am Boykott beteiligen. Deswegen sind wir Schweizer doch nicht unsympathisch. Vorauseilende Blockadebrecher zwar schon, aber doch nicht aus habgierigen Absichten. Streng neutral eben, mehr nicht.

Die Ostukraine ist immer noch besetzt, die Krim immer noch annektiert, der Friedensprozess blockiert, die Sanktionen der EU und der USA nach wie vor in Kraft.

Kann es sein, dass sich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung einen Angriffskrieg gar nicht mehr vorstellen kann? Im Frieden aufgewachsen, ohne jeden persönlichen Bezug zu einer tödlichen Auseinandersetzung zwischen Staaten, historisch uninteressiert, friedliebend, versöhnlich, Fried selig?

Ja.

Die Nachkriegsgeneration

die nicht vergessen kann, die nie vergessen will

Lange ist es her – und es kommt der Gedanke: Sind es noch persönliche Erinnerungen oder sind es bereits Publikationen? Second Hand. Längst vergessene Fotos füllen die Lücke, erzählen eine Geschichte aus einer vergangenen Zeit. Mein Vater im Aktivdienst, hoch zu Ross irgendwo im Norden am Rhein. Zuhause die Koffern gepackt, bereit für die Flucht in die nahen Berge, ins Eigental. Am Abend alle Fenster abgedunkelt. Es ist Ende 1943.

Geboren in diese Zeit ist man kein Kriegskind mehr. Im Gegenteil. Geboren in ein Leben ohne Krieg, ein fast einmaliges und unglaubliches Glück. Getrübt nur durch den kalten Krieg. Den man längst vergessen hat, oder eben doch nicht?

Der Ungarn-Aufstand

Ein Aufstand des Volkes gegen die verhasste stalinistische Regierung. Arbeiter und Bauern, Kommunisten und Sozialdemokraten, Soldaten und Generäle, Intellektuelle und Studenten. Sie fordern die sowjetischen Besatzer auf, das Land zu verlassen. Am 22. Oktober 1956 verfassen Studenten der Technischen Universität Budapest eine Erklärung, wonach sie bürgerliche Freiheitsrechte einfordern, Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und die nationale Unabhängigkeit. Es kommt zu einem Volksaufstand, die Lage eskaliert, die Ereignisse überschlagen sich. Am 4. November rücken starke sowjetische Panzerverbände in Ungarn ein. Nach offiziellen Angaben starben 2’500 Ungarn und über 700 sowjetische Soldaten, 200’000 Ungarn fliehen, auch in die Schweiz(Klicken Sie zum Weiterlesen)

auch nach Bern. Wer zu dieser Zeit an der Universität Bern Nationalökonomie studierte und nicht Bernburger war oder zumindest in Bern aufwuchs, gehörte als Auswärtiger einer Minderheit an, die auf Distanz gehalten wurde. Luzerner wie ich, Luzern damals noch ohne eigene Universität (mit Ausnahme einer theologischen Fakultät), und Tessiner verkehrten in einer Art Diaspora. Man war als Minderheit unter sich. Zu uns stiess eine weitere Minderheit, Flüchtlinge aus Ungarn. Sie fanden bei uns, was sie so gerne haben wollten, die Freiheit. In Kürze sprachen sie deutsch, sogar schweizerdeutsch, sogar fast ohne Akzent.

Aus ihnen wurden Professoren, Unternehmer, Polizeigrenadiere der Stadt Bern. Bis zum heutigen Tag gute Freunde.

Der Ungarn-Aufstand zeigte evident, zu welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit die Sowjetunion imstande war. Wir junge Schweizer waren uns einig, wir würden kämpfen. Wer konnte, ging in die RS (Rekrutenschule), wer nicht konnte, behielt es für sich.

Autobiografisch aus der Retrospektive: 1964 Flab-RS in Emmen. Ausbildung als Radarsoldat an Geräten von Contraves, eine Gesellschaft der Oerlikon-Bührle-Gruppe, damals noch eine Schweizer Spitzentechnologie. Anschliessend Flab UOS (Unteroffiziersschule).

1965 Abverdienen mitten im Kalten Krieg. Das Feindbild war leicht zu vermitteln, die rote Armee, hochgerüstet und gefährlich.

Kaserne Emmen, Ausbildung an der persönlichen Waffe

1966 Flab-OS (Offiziersschule) in Dübendorf, anschliessend Abverdienen in Emmen. Feuereinheitskommandant.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Ein gezogenes Feuerleitgerät, zwei gezogene Kanonen, drei gezogene Aggregate, ein Lastwagen mit Prügelmatten, insgesamt eine Kolonne von sieben Lastwagen, ein Jeep. Ein Stellungsbezug im Gelände bei Nacht mit technischer Schussbereitschaft im frühen Morgengrauen war schon eine aussergewöhnliche Herausforderung für einen dreiundzwanzigjährigen Studenten der Wirtschaftswissenschaften.

Man trägt noch Uniform im Ausgang, Vorschrift. Und wer in der zivilen Bevölkerung als Offizier herumlief bekam es allmählich deutlich zu spüren: die Passanten Blicke. Sie sagten viel, namentlich in den Städten, bei der urbanen Bevölkerung. War es Hohn, mehr noch – Hass? Ein vorbeiziehender Offizier, per se ein Karrieretyp, ein Wichtigtuer, ein Alphatier in Geburtswehen. Zum negativen Image beigetragen hat wohl auch die persönliche Erfahrung vieler Soldaten mit dem Militärdienst der damaligen Zeit, teilweise zu Recht. Doch darüber hinaus zweifelte man bereits erstens über die Notwendigkeit einer eigenen Armee und zweitens über die Wirksamkeit im Ernstfall. Wo war die reale Bedrohung? Westdeutschland war dazwischen.

Als Offizier im Ausgang liess man seinen Hut besser nicht mehr in der Garderobe zurück.

Der Prager Frühling

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968, kurz vor Mitternacht, landen 200 sowjetische Transportflugzeuge mit Fallschirmjägern und schweren Waffen auf den Flugplätzen rund um Prag. Anschliessend überschreiten eine halbe Million Soldaten aus der Sowjetunion, aus Polen, Ungarn (!) und Bulgarien die Grenze zur Tschechoslowakei. Dabei 6’000 Panzer. Sie besetzen in wenigen Stunden alle strategisch wichtigen Positionen. An der Grenze zwei Divisionen der Nationalen Volksarmee der DDR. Die grösste militärische Operation seit 1945.

Im Schweizer Radio hören wir täglich die Berichterstattung von unzähligen Piratensendern aus der Tschechoslowakei, live, dramatisch, unvergesslich. Es werden immer weniger. Bald wird es stumm. Die Reformversuche der kommunistischen Partei der CSSR wurden gewaltsam beendet. Sie waren aus sowjetischer Sicht konterrevolutionär und friedensgefährdend. Es folgte eine Phase der Restalinisierung, offiziell der „Normalisierung“.

1969 Sport-Of Kurs FF Trp, 1970 Nahkampfkurs St. Luziensteig, 1975 Zentralschule I, Wiederholungskurse. 1988 Zentralschule II, Chamblon/Birmensdorf. 1989 Abverdienen. Geopolitisch eine ruhige Zeit. Es kam eine Epoche, wo das Feindbild nur noch diffus erkennbar war. „Weitermachen“ war nur noch für Betonköpfe, das Kader der Wirtschaft legte immer weniger Wert auf militärische Führungserfahrung. Im Gegenteil, wer sich dafür einsetzen wollte wirkte suspekt. Akademiker nutzten die „eingesparte“ Zeit für ein Doktorat oder eine Management-Führungsschule.

1990: Konzeptstudie Flieger/Flab im Zusammenhang mit der Einführung der takt L Flab Lwf Einheiten (Lenkwaffen Stinger). Nach meinen Studien, wenn ich mich richtig erinnere, wäre die Sowjetunion in der Lage gewesen, innerhalb von 20 Stunden (ab Tschechoslowakei) im Reusstal eine Luftlandedivision abzusetzen mit dem Auftrag, einen Brückenkopf zu errichten.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Ergebnis der Studie auf militärdeutsch: Mit „schachbrettartig“ in die Tiefe des Raumes gestaffelter Aufstellung der Lenkwaffensysteme wäre es möglich gewesen, dem Gegner die Benutzung des unteren Luftraumes nachhaltig zu erschweren und damit zur Abnutzung der gegnerischen Luftkriegsmittel beizutragen.

Die Diensttage summierten sich, schliesslich sollten es 1095 Tage oder volle 3 Jahre sein (1994). Nicht ungewöhnlich für meine Generation.

Perestroika – der Anschluss an Europa – die unglaubliche Wende

Niemand, wirklich niemand hatte die Hoffnung, das russische Imperium würde ohne Krieg fallen. Tränen in den Augen, nicht nur in Berlin, auch vor dem Fernseher. Die russischen Zeitungen durften wieder unzensiert berichten, die russische Bevölkerung erfuhr die katastrophale wirtschaftliche Lage, inhaftierte Regimekritiker wurden freigelassen (Glasnost). Erste Schritte zur Demokratisierung folgten (Perestroika). Die nachteiligen festgefahrenen Strukturen wurden reformiert, die Planwirtshaft gelockert.

Plötzlich hatte man Freunde in Russland, wollte das Land bereisen.

An den internationalen Münzenbörsen – um beim autobiografischen Bezug zu bleiben –  tauchten russische Händler auf, kauften Silber- und Goldmünzen, nicht nur russische, ältere Banknoten aus dem Zarenreich und aus den ehemaligen Satellitenstaaten. Sympathische, zugängliche und interessierte Händler. An den Auktionen, in der Schweiz bei Sincona, wurden unglaubliche Spitzenpreise erzielt, phantastische Ergebnisse. Da waren sehr reiche Auftraggeber aus Russland am Draht.

Man begann sich für Russland zu interessieren, ein riesiges Land mit einem unglaublichen historischen Hintergrund. Ein gigantischer Markt für Erzeugnisse aus aller Welt, eine wirtschaftliche Win-Win Situation aus dem Bilderbuch. Und abschliessend noch einmal autobiografisch: die Schiffsreise von Moskau nach Leningrad auf einem ehemaligen DDR-Schiff (Klicken Sie zum Weiterlesen)

Moskau – Uglitsch – Jaroslawl – Gorizy – Kishi – Mandrogi – St. Peterburg, in rund 10 Tagen.

Unterwegs mit MS Konstantin Simonov

Moskau: unzählige Edelkarossen auf der Strasse, vorwiegend deutsche Fahrzeuge, alle neuwertig, immer die obersten Ausführungen. Viele Baustellen, keine Polizisten, keine Militärangehörigen mit Ausnahme beim Kreml.

Welcher Kontrast zu heute! Die Kaufkraft des Rubels im vertikalen Sinkflug, die Staatseinnahmen aus Öl und Gas ebenso. Als Brandverstärker der Boykott der westlichen Staatengemeinschaft, der unglaubliche Reichtum der Oligarchen, die Lügenpresse, die gesuchte Bedrohung aus dem Westen, die glorreiche Eingliederung der Krim – was für eine Kette unvorteilhafter Faktoren auf einer „Burning Platform“. Eine historische Chance total vertan.

Die politisch-militärische Glaubwürdigkeit und die wirtschaftlichen Folgen

Nach dem russischen Einfall in Georgien im Oktober 2008, der im Westen als lokale Auseinandersetzung um Grenzverläufe ehemaliger sowjetischer Satelliten wahrgenommen wurde, hat Russland seine Streitkräfte reformiert: weg von den schwerfälligen Divisionen hin zu flexiblen, in kurzer Zeit einsetzbaren Brigaden für Sonderoperationen, verstärkt durch Spezialkräfte der Geheimdienste. Bei der Besetzung der Krim waren Sondereinheiten der Luftlandetruppen (Speznas) massgeblich beteiligt. Wir sahen sie im Fernsehen, völlig deplatziert als „grüne Männchen“ betitelt. Sie waren überall, aber ohne Hoheitsabzeichen, vor Verwaltungsgebäuden, Polizeistationen und militärischen Einrichtungen. Putin nannte sie Selbstverteidigungskräfte oder autonome Nationalisten, aber keineswegs russische Armeeangehörige, allenfalls freiwillige russische Soldaten im Urlaub! Ein Blick auf die persönliche hochtechnische Ausrüstung hätte genügt, Putin immer wieder der Lüge zu überführen(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Der Kombikampfanzug besteht aus atmungsaktivem Kunststoff, der vor Feuer und Splitter schützen soll und bei Nacht (in Infrarotstrahlen) nicht erkennbar sei. Die Schutzweste aus Keramikplatten. Weiter gehören dazu moderne Kommunikationsmittel, ein Nachtsichtgerät und Multifunktionsgeräte im Helm mit Camcorder.

Putin musste wissen, dass man seine Lügen aufzeichnen würde. Es muss ihn nicht gestört haben. Die Beteiligung seiner Spezialkräfte hat er später auch zugestanden, nicht ohne Stolz. Er hält es wohl für eine Kriegslist, und nicht für einen Krieg ohne Kriegserklärung.

Es ist derselbe Putin von heute, mit dem man wieder Geschäfte machen soll. Krim hätte immer zu Russland gehört, diesem Argument neigen auch „gemässigte“ Politiker zu. Der Verstoss gegen das Völkerrecht sei hinzunehmen. Vom offenen Kampf in der Ostukraine und der Errichtung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk wollen sie nicht sprechen. Da sei im übrigen eine Lösung in Sicht.

Akut gefährdet sind die baltischen Staaten, stark bewohnt von einer russischen Bevölkerung. Die lustigen „grünen“ Männchen wären in Kürze auch dort. Schon fast vor Ort waren sie bei der Militärübung „Sapad“.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Alle 4 Jahre, 2017 Mitte September, fand das Grossmanöver „Sapad“ statt, unter Beteiligung weissrussischer Truppen. Im Westen (Sapad) von Russland, zwischen Polen im Süden und Litauen im Norden, liegt die russische Exklave Kaliningrad. Der Korridor vom westlichen Kaliningrad zum östlichen Weissrussland über den Grenzabschnitt Polen/Litauen wird als Suwalki-Lücke bezeichnet. Diese über 100 Kilometer lange Lücke hat strategische Bedeutung. Eine Besetzung durch russische Truppen würde die baltischen Staaten vom Nato-Gebiet abtrennen und damit ihre Versorgungslinie unterbrechen.

Es fehlt nicht an Dramatik. Nato-Truppen haben erstmalig auch schon die Rückeroberung der Suwalki-Lücke geübt.

Russland, unser Geschäftspartner?

Der wirtschaftliche Niedergang

Die für Russland so wichtigen Einnahmen aus Rohöl und Gas sind mit sinkenden Marktpreisen im freien Fall. Strukturelle Reformen in der Wirtschaft sind fast völlig ausgeblieben. Die russische Machtelite schöpft ab. Unbehelligt bleibt nur der militärisch-industrielle Komplex, der für die Modernisierung und Neuausrüstung gewaltige Summen absorbiert. Die NZZ („Russlands imperialer Irrweg“) vom 19. Juni 2017 kommt auf einen Gesamtanteil für innere und äussere Sicherheit von 10,7 Prozent des BIP (Bruttoinlandprodukt). Zudem wirkt sich nachteilig aus, dass der Technologietransfer für „dual use“ Güter unterbrochen ist (It-systeme und -komponenten wie auch Führungs-, Leit- und Kontrollsysteme). Unterbunden ist auch Russlands militärisch industrielle Zusammenarbeit mit der Ukraine, was bei uns weniger bekannt ist. Die NZZ erwähnt „Forschung, Entwicklung und Produktion von Flugzeugen und Flugzeugkomponenten, Helikoptern, Marinemotoren, Trägerraketen, Lenkwaffen, Elektronik und Radaranlagen“.

Der wirtschaftliche Niedergang liegt jedoch nicht nur in den sinkenden Energiepreisen und in den steigenden Ausgaben für die Armee begründet. Er ist in erster Linie systemimmanent. Putins Machtfundament gründet in einem politischen Klientelismus. Putin hat es verstanden, einflussreiche Vertreter der Machtelite und wirtschaftliche Oligarchen persönlich an sich zu binden. Entstanden ist auf diese Weise eine Art Günstlingskapitalismus. Putin herrscht über ein Netz asymetrisch gebundener Loyalisten. Es mag sich dabei um einen Versuch handeln, den Erfolg der alten russischen Feudalwirtschaft zu kopieren.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Loyalisten finden sich an der Spitze der staatlichen Macht, in der Staatsduma (im Unterhaus), im Föderationsrat (im Oberhaus), im Sicherheitsrat und in der Justiz. Dieses politische Machtzentrum wird ergänzt durch wirtschaftliche Loyalisten an der Spitze von Staatsunternehmungen und gewaltiger „privater“ Konzerne. Wie mächtig und reich diese Loyalisten sind, zeigt sich an den Kapitalabflüssen in den Westen oder noch eindrucksvoller in die Offshore-Steueroasen im Westen. Die Günstlinge sind bekannt. Sie finden sich namentlich auf den Sanktionslisten.

Putins neofeudales System kann nachhaltig nicht erfolgreich sein. Die wirtschaftliche Lücke zum Westen wird immer grösser. Die Loyalisten sitzen auf quasi Monopolen. Es fehlt an Wettbewerb, national wie global, die Korruption verhindert dringend notwendige Produktivitätsfortschritte. Kommt Loyalität vor Innovation und Unternehmergeist ist der wirtschaftliche Niedergang unabwendbar.

Russlands Ideale

Der politische Klientelismus in einer „gelenkten“ Demokratie kann sich nur solange halten, als die Bevölkerung mitmacht. Und das tut sie, schwer verständlich für im Westen lebende Freigeister. Wenn man der Selbstbeurteilung russischer Intellektueller folgen soll träumt das russische Volk von einer Vergangenheit, die es so gar nie gab. Die Vergangenheit, real gesehen eine Kette traumatischer Ereignisse, sei historisch nie aufgearbeitet worden, eher schon mit Halbwahrheiten zusammengezimmert. Die wahrgenommene Vergangenheit sei eine historische Fiktion, die dem Volk als Zukunft verordnet werde. Und die neu kultivierte Sensibiltät für das Vergangene bewirke, dass die Zukunft, welche auch immer, schlechter dastehe als die Gegenwart. So verliert der Anschluss an den Westen an Relevanz und  trägt in sich den Keim der Dekadenz.

Ob die staatlich geführte Lügenpresse dabei die entscheidende Rolle spielt, ist letztlich unerheblich. Ebenso, ob Unterschiede zwischen der urbanen und ländlichen Bevölkerung bestehe. Grosso Modo steht die Bevölkerung hinter der die Vergangenheit verklärende Politik von Putin. Alles andere ist Wunschdenken. Sie will einen starken Führer und sie ist stolz, dass der Westen wieder Respekt und Angst vor Russland hat.

Das russiche Volk braucht einen Köder, die Krim. Und die alte Mär von der Einkesselung durch die Nato schliesst die Reihen im Inland. Es braucht nur noch Fake-News, gekonnt aufbereitet durch die staatlichen Informationskanäle, und das Ganze hält, solange die Loyalisten Putin lassen.

Russlands imperiale Kräfte

Von einer imperialen Überdehnung spricht man, wenn die Ausgaben für die innere und äussere Sicherheit die wirtschaftlichen Möglichkeiten übertreffen. Russland ist auf diesem Weg. Unter Putin sind die Militärausgaben laufend gestiegen. Hinzu kommen die Ausgaben für die wirtschaftliche Unterstützung und Entwicklung der annektierten und besetzten Gebiete.

Sind die imperialen Kräfte einmal da, ist die Versuchung gross, grenznahe Konflikte zu provozieren, auf weitere „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum militärisch zu reagieren und den Westen auf Distanz zu halten. Russland zwingt die Nachbarstaaten in die Abhängigkeit (wie Weissrussland und Armenien), unterhält Separatistengebilde wie Südossetien, Abchasien, Transnistrien und eben „Neurussland“. Es leiden nicht nur die souveränen Nachbarstaaten, Russland schürt auch Ängste bei den östlichen Nato-Partnern.

Transnistrien 500 Rubel (1994)

Das in der heutigen Zeit aus dem Rahmen fallende aggressive Vorgehen verhindert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten und zwingt Russland in eine wirtschaftlich unvorteilhafte Eurasische Union als Alternative zur EU.

Schweiz – was nun?

Die Schweiz muss nicht Trittbrettfahrer bei den Sanktionen sein. Sie kann ihren eigenen Weg gehen. Weder im Kreml noch bei befreundeten Staaten darf jedoch der Eindruck entstehen, dass die Schweiz aus dieser Situation Vorteile erziele.

„Wandel durch Handel“, wie aus wirtschaftlichen Kreisen immer wieder vorgeschlagen, ist das falsche Rezept. Russland scheitert an den festgefahrenen  politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Russland ist ein Koloss in einer lebhaften Umgebung. Und bleibt deshalb gefährlich.

Es kommt hinzu, dass Putin versucht, Westeuropa zu spalten. Und dazu findet er immer wieder Krisenherde, immer wieder Gelegenheiten, Öl ins Feuer zu giessen. Denn offene Demokratien sind verletzlich, die Meinungs- und Medienfreiheit hinterlässt Wunden, Unsicherheiten und Zweifel, was insbesondere die EU heute erlebt.

Wie soll sich die Schweiz verhalten?

  1. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte hat unmissverständlich gezeigt, dass Russland bereit und in der Lage war, geopolitische Ziele auch mit militärischen Mitteln zu erreichen. Die Schweiz muss sich dessen bewusst sein. Die Hoffnung, der Kreml verzichte auf die Anwendung militärischer Gewalt, grenzt an Naivität.

2. Die „grünen“ Männchen sind Teil der Desinformation. Ebenso die Behauptung, Russland sehe sich von der Nato eingekreist und bedroht. Wer Verständnis hat für diese Erklärung lebt „auf Wolke sieben“.(Klicken Sie zum Weiterlesen)

Und Augen auf – in aller Offenheit: „Wolke sieben“ ist bevölkert, da treffen sich intellektuelle Idealisten, unbekehrbare Moralisten und fundamentale Kriegsgegner aus dem linken Lager. Es sind nicht wenige oder im Klartext: Es sind viele!

Russland steht mit modernen Kampfeinheiten an der Grenze zu unseren östlichen Nachbarn , jederzeit in der Lage, politische Unruhen zu unterstützen.


3. Die Schweiz muss immer wieder und bei jeder Gelegenheit die Anwendung militärischer Gewalt missbilligen. Das macht sie nicht. Wenn es die Schweiz unkommentiert zulässt, dass die Russische Föderation im Minsker Prozess als Mediator auftritt, und nicht als Kriegspartei, wird sie zum Statisten.


4. Die Vorstellung, die Denkweise zwischen der wirtschaftlich politischen Elite und der Bevölkerung sei nicht deckungsgleich, es gelte daher, die Bevölkerung zu unterstützen, ist längst widerlegt.  Die Behauptung, wirtschaftliche Sanktionen schaden der Beziehung mit der russischen Bevölkerung, gleicherweise.


5. Der Kreml hofft auf den Verfall des Westens. Brexit, Ukip, AfD, FPÖ, Front national, die politische Entwicklung in Ungarn, Polen und der USA, schwächt zwar die moralische Standfestigkeit. Doch kann es nicht sein, dass die Ethik ausgerechnet in einem korrupten Russland noch intakt ist. Im Westen werden Werte noch diskutiert, nicht vorgegeben. Da fliegen Späne, nicht Bomben.


Szenenwechsel: Schottland, im Spätherbst 2016, im Kreuzgang einer Kathedrale, rundum in Stein gehauene und auf Leinwand gebannte historische Gestalten, eine tiefe Stimme – der Fremdenführer erhobenen Hauptes, mit glasigen Augen: „It’s all about power and money“. Und immer wieder:

It’s all about power and money

12.10.2017/Renzo Zbinden