Frühjahr 2020, China macht es vor: Die Reisebeschränkungen in der Provinz Hubei werden gelockert. Wer einen grünen Code auf dem Handy-Bezahlsystem «Alipay» hat, darf die Provinz verlassen. Wer einen roten oder gelben Code hat, muss warten. Grundsätzlich eine hervorragende Art, Corona-Ansteckungen zu verhindern. Doch mit welchen Folgen? Es lohnt sich, nach Antworten zu suchen.
Facial Recognition – lächelnde Gesichter
In China ist der bargeldlose Einkauf schon fast die Regel, wobei bargeldlos nicht bedeuten muss, mit Kreditkarten zu bezahlen. Chinesen bevorzugen Smartphone-Apps wie «WeChat» oder eben «Alipay».(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Doch Handy-Bezahlsysteme braucht es in Zukunft auch nicht mehr, die Entwicklung geht weiter in Richtung «Smile to Pay». Der Käufer tritt vor die Kamera und lächelt. Die Gesichtserkennung löst die Zahlung aus.(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Die Gesichtserkennung dient auch zum Einchecken in Hotels oder als Boarding-Pass beim Fliegen. Wer ein Warenhaus betritt wird mit Namen begrüsst, im Hintergrund das ihm bekannte Verkaufspersonal aufgeboten und personalisierte Angebote vorbereitet. Erfahrene Verkäufer, vertraute Ware, hohe Kundenzufriedenheit. Auch im Restaurant: persönliche Begrüssung und Bedienung, individuelle Menüvorschläge gestützt auf frühere Bestellungen.
Was auf den ersten Blick als effizient und sinnvoll erscheint, birgt jedoch gewaltige Risiken. Wie uns bekannt wird die Datenspur, die der Kunde durch sein Verhalten hinterlässt, analysiert, verwertet (und allenfalls weiterverkauft). Gestützt auf Big Data erstellen globale Technologiegiganten bereits heute Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile.
Die Kommerzialisierung des Privaten durch digitale Geschäftsmodelle ist nicht neu, der Missbrauch der Datenflut zu staatspolitischen Zwecken hingegen schon. Die mehr oder weniger unkontrollierte Verletzung der Privatsphäre zu nicht kommerziellen Zwecken führt in eine Zukunft, die wir uns bisher nicht vorstellen konnten.
Die monumentale Datenkrake als Herrschaftsinstrument
Die Kommunistische Partei Chinas hat schon vor Jahren die Chancen erkannt, das Verhalten der Einwohner zu überwachen und in ihrem Sinne zu lenken. Das heutige Überwachungssystem ist digitalisiert und aufgrund der technologischen Möglichkeiten völlig entpersonalisiert. Es stehen keine Personen mit emotionalen Regungen hinter dem Überwachungssystem, keine Personen mit ethischen Ansprüchen, mit Gespür für Zusammenhänge (wie dies bei Blockwarten der Fall war), nur die hoch entwickelte Hard- und Software in Verbindung mit der künstlichen Intelligenz. Wobei der Begriff «nur» zu relativieren ist.
Das Überwachungssystem verfügt über 600 Millionen Kameras. Dem Auge des Staates bleibt nichts verborgen. Der Polizeistaat begleitet seine Einwohner rund um die Uhr. Um die Summe der Beobachtungen zu quantifizieren und zu qualifizieren, braucht es ein Punktesystem, ein Rating, gestützt auf Algorithmen:
«Citizen Score»
Vorbild für «Citizen Score» ist eine Variante, die der Onlinehändler Alibaba einsetzt.(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Wer sich im Sinne der Partei verhält, wird belohnt, wer nicht, hat die Konsequenzen zu tragen. Als Beispiel hängen die Punkte davon ab, welche Websites häufig besucht werden. Wer Computerspiele einkauft sinkt im Rating, wer Windeln einkauft steigt im Rating. Dahinter steht der Gedanke, dass Eltern verantwortungsvoller sind als Personen, die ihre Freizeit vor dem Computer mit Videospielen verschwenden. Das Rating lässt sich verbessern durch ehrenamtliche Engagements für die Gesellschaft oder für die Partei, Spenden für wohltätige Zwecke, Blutspenden oder was auch immer. Ein hohes Rating öffnet den Weg zu einem privilegierten Leben, besseren Schulen für die Kinder, eine gehobene Gesundheitsversorgung oder für eine Beschäftigung bei Regierungsstellen oder Staatskonzernen.
Welche Daten mit welcher Gewichtung erfasst werden bleibt intransparent. Man geht davon aus, dass insbesondere solche über die Vertragstreue und die Zahlungsfähigkeit, die persönlichen Kontakte und über das Verhalten erfasst werden. Hinzu kommen Daten aus dem Strafregister, der Krankenkasse, der Rentenversicherung und weitere aus staatlichen Institutionen.
Der Druck, das persönliche Rating bekannt zu geben ist gross. Wer will schon Mitarbeiter mit einem schlechten Rating. Denn die Unternehmen selbst sind Gegenstand eines Ratings.(Klicken Sie zum Weiterlesen)
Belohnt wird u.a. durch Steuergeschenke, bestraft durch den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen.
Die digitale Diktatur
Gelingt es China, das Verhalten der Gesellschaft zu verändern? Man kann es nicht leugnen: mit Sicherheit ja. CSCS ist ein Lenkungsinstrument, um die Effizienz auf Stufe Wirtschaft zu steigern. Auch die gesunde Ernährung lässt sich steuern, umweltbewusstes Verhalten ebenso, der soziale Frieden teilweise auch. Was die Auswirkungen auf den persönlichen Wohlstand sind (das Bruttosozialprodukt pro Kopf), die Lebensdauer und die persönliche Zufriedenheit, ist eine andere Frage.
Die freie Wirtschaftsordnung des Westens mit seinen komplizierten Entscheidungsprozessen und seinen weitgehenden Datenschutzgesetzen kann hier nicht gleichziehen. Und die Schweiz ist nicht China.
China ist ein riesiges Land mit extremer Migration und mit gigantischen Ballungszentren, ein Land mit gewaltigem Wachstum und kaum unter Kontrolle zu haltender Korruption. Die Herrschafts- und Machtinstrumente können nicht ähnlich sein. Vergleichen wir trotzdem:
Darf man erwarten und muss man befürchten, dass ein Polizeistaat chinesischer Prägung dank hochentwickelter Überwachungs- und Führungsinstrumente nicht heute aber in Zukunft der freien sozialen Marktwirtschaft überlegen sein wird? Ermöglicht «Citizen Score» bedürfnisgerechtere Angebotsstrukturen, eine gesündere Lebensführung, zwar weniger Freiräume, jedoch gerechtere Wohlstandsverteilung? Der Anspruch ist auf jeden Fall unerhört.
Da errichtet ein Staat, der sich der Kontrolle der Bürger entzieht, die Meinungs- und Pressefreiheit verhindert, ein allgegenwärtiges Überwachungssystem, um eben diese Bürger zu bevormunden – eine eigentliche Verhaltensdiktatur, einen Überstaat.
Machtverschiebungen zugunsten von Staat und Gesellschaft – ein Vorbild?
Was erwartet uns nach Covid-19? Für eine Prognose ist es noch zu früh. Naheliegend ist die Vermutung, dass der Staat gestärkt aus dieser Krise hervorgeht und die Wirtschaft geschwächt. Der Staat hat sich Rechte geholt, die er behalten will, in die Wirtschaft eingegriffen, wo es ratsam erschien. Lenkungs-Politiker werden sich bestätigt sehen, Wirtschaftsliberale werden es nicht einfach haben. Die Erwartungen an den Staat werden nicht zurückgehen, im Gegenteil. Der Überstaat soll es richten, individuelle Notlagen ausgleichen, nicht nur auf Zeit, sondern auch langfristig durch immer umfassendere Umverteilung.
Beispiele dafür können sein: das bedingungslose Grundeinkommen, der Verzicht auf Bargeld, die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, die Entglobalisierung, Lieferketten im Pharmabereich, Auslagerung von Arbeitsplätzen Richtung Home-Office, Direktlieferungen an Haushalte, der Verzicht auf Flugreisen, Pflichtlagerhaltung, Schulwesen, die Schuldenbremse, wohl kaum ein Bereich wird unverändert aus der Corona-Krise hervorgehen.
Keine Arbeitgeber sollen Konkurs gehen und keine Arbeitnehmer ihre Stelle verlieren! Es sollen die Konjunkturrisiken der Arbeitgeber und die Arbeitsrisken der Arbeitnehmer an eine wohlmeinende und gütliche Obrigkeit abgetreten werden. Der Sozialstaat soll es richten, mit einem starken Fokus auf die Umverteilung und verklärt durch ideologische Programme. Der Überstaat als Endziel?
Wer stemmt sich dagegen?
11.04.2020/Renzo Zbinden